Panoramas
Auf einem Weg in die Künstler- und Galerienecke m50 wird mir langsam klar, wie 20 Millionen Einwohner in Shanghai Platz haben…
m50 selbst ist ein ehemaliges Fabrikgelände, auf dem sich mehrere Galerien und Atelies angesiedelt haben. Von traditioneller chinesischer Stickerei über allerhand Skulpturen bis zu Medienkunst ist alles vorhanden. Eintritt: nada. Das Wetter war nochmal perfekt, was dann aber wohl das letzte schöne Wochenende hier gewesen ist. Ab Montag hat der Dauerregen eingesetzt und mit T-Shirts ist es erstmal vorbei.
Jing An Tempel
Woran es auch immer liegen mag, seit ein paar Tagen ist es auf den Straßen plötzlich doppelt so voll. Die Fahrradfahrerhorden sind erst recht nicht mehr hinter der Haltelinie zu bändigen, so dass nun statt Verkehrshelfern am Bordstein auch waschechte Polizisten eingesetzt werden. Nur sie schaffen es, den Busfahrern ihr Recht zu bewahren, trotz Rot einfach weiterhin hupend über die Kreuzung zu brettern. Nur selten erlahmt der Verkehr komplett für wenige Sekunden. Doch es kommt schnell wieder Bewegung in die Sache.
Die Menschen hier sind es einfach gewohnt, sich irgendwie durchzuwuseln. Sie haben den 6. Sinn, der es ihnen ermöglicht um Haaresbreite durch Lücken zu drängeln, ganz egal ob sie Roller, PKW oder Bus sind. Gut, die Roller haben manchmal das Nachsehen, aber es gibt nichts, was ein paar Lagen Tesafilm nicht beheben könnten. (Und es gibt kaum einen Roller, der nicht schon beängstigend großflächig mit Klebeband repariert wurde!)
Dennoch muss ein Ausweg her. Zuflucht findet der gestresste Großstädter – ja, in einem Massagesalon. Aber ich dachte eher an einem der buddhistischen Tempel, die es hier in Shanghai gibt. Der mir nächste (und ein ziemlich berühmter dazu) ist der Jing An Tempel. Früher bestimmt wie in alten Kung-Fu-Filmen zwischen malerischen Hügeln gelegen (“Temple of Peace and Tranquility”), steht dieser Tempel heute zwischen 3 Baugruben und einer riesigen Mall. Die Mauern mit ihren Löwenstatuen sehen dennoch gewaltig aus. 20 Yuan kostet der Eintritt, und ich habe Glück, nicht inmitten einer Ladung Touristen gelandet zu sein.
Drinnen angelangt verstummt die Großstadt zwar nicht, aber es wird deutlich ruhiger. Eine große Säule steht in der Mitte des quadratischen Platzes, aus zwei Bottichen quillt Weihrauch. Gegenüber führt eine hohe Treppe in den Haupttempel mit einem Saal voller Heiligenstatuen und Gebets- und Opfermöglichkeiten. Eine Handvoll Westler ruht sich auf Stufen aus, eine Handvoll Chinesen kniet sich vor Schreinen hin oder verbeugt sich mit Weihrauchstäbchen in alle 4 Himmelsrichtungen. Die Stäbchen gibt es für einen kleinen Obolus am Eingang und wer es Ernst meint, kauft gleich ein ganzes Büschel. Ich halte meine pyromanische Ader in Zaum, denn ich kenne die Zeremonie aus Vor’s-Gesicht-Halten und In-4-Richtungen-Verneigen nicht und möchte keinesfalls den Zorn von Dämonen auf mich ziehen.
Die Säule in der Mitte des Platzes ist da schon einfacher. Sie dient als eine Art Tempelsparschwein Klingelbeutel im Großformat. Ein Münze in eine der Öffnungen zu werfen sieht einfacher aus als es ist, doch ich versuche mein Glück. Beim 5. Mal (die ersten 4 zählen beim Glücksgott hoffentlich nicht) schaffe ich es, und mein Yuan klimpert in den großen Bronzebottich. Spenden macht Spaß! Das sollte man mal unserem Herrn Papst vorschlagen.
Mein Besuch ist zu Ende, und ich wandere noch einmal außen um die Tempelmauern. Es ist ein seltsames Verhältnis zwischen Moderne und Tradition, das sich hier widerspiegelt, denn während an der Nordseite mehrere Juwelierläden in die Mauern eingelassen sind, gibt es auf der Südseite nicht nur ein Kaufhaus, das sich sehen lassen kann, nein, es gibt auch Hello Kitty Schmink- und Fotoboutiquen. Die kleinen Zelte sehen aus wie die römische Armee, die das Dorf von Asterix und Obelix umringt hat. Ich frage mich, ob den Chinesen das nicht selbst etwas krank vorkommt, oder ob sie es einfach ganz anders interpretieren. Aus einer Wirtschaftswunderposition heraus nämlich, wo man sich solche Fragen einfach noch nicht stellt…